Ein Sommerabend auf dem Parkplatz am westlichen Ende der Zigarettenstraße.
Nichts hatte es erwarten lassen, und vielleicht schallte deswegen, für alle
anwohnenden Mietpartien vernehmbar, gegen Ende der Auseinandersetzung um 2
Uhr morgens ein entrüstetes "Nie rozumiem tego...!"durch die Ulica Jednosci
Robotniczej. Bernd Vogenbeck war für Sie live vor Ort und erzählt die
Geschichte von Anfang an:
(vog) Kaum war die Słubicer Fußgängerpromenade in neuem Licht erstrahlt, waren die
Anwohner durch freundliche Briefe des Kommandanten der Stadtwache "zur
Wahrung der Lebensqualität und Schönheit unserer Stadt" - zur Meldung
etwaiger Blumendiebe aufgefordert, kaum hatten die ersten müden Fußgänger
sich auf den steinernen Runden und Rundungen der Blumenbeete zum
Verschnaufen gesetzt, begrüßte die Straße auch ihre ersten permanenten
Besucher: der unterhalb des Verkehrskreisels befindliche Parkplatz, von
polnischen Geschäftsinhabern, deutschen Einkaufstouristen und
osteuropäischen Durchreisenden angesteuert, bot und bietet eine
vortreffliche Örtlichkeit, dem bisher auf der Brücke praktizierten Ritual
des freundlichen aber ungefragten Frontscheibenwischens eine feste Heimstatt
zu geben.
Das Prinzip ist einfach: der Prophet geht nicht mehr zum Berg, der Berg kommt zu ihm. Zudem ist der Scheibenputzer nicht mehr darauf angewiesen,
dass sich eine ausreichend lange Schlange an der Grenze gebildet hat, bevor er zu Spritzflasche und Chamois-Lappen greift - denn nur dann ist genügend Zeit,
gewissenhaft den letzten Flecken vom Frontglas zu schrubbern. Am Parkplatz hingegen besteht zum ersten ein steter Fluss an Autos, zum zweiten stehen
diese dort eine längere Zeit. Lange genug, um sowohl vortreffliche Arbeit leisten zu können als auch nach Rückkehr der Autoeigner von Wechselstube, Delikatessen
oder Zigarettengeschäft auf deren Wünsche und Vorbehalte in Bezug auf eine etwaige monetäre Gegenleistung eingehen zu können (was zuweilen auch etwas lauter
vonstatten gehen kann). Entsprechend begehrt sind Plätze auf den Bänken vor der Stadtbibliothek bzw. auf den steinernen Sitzflächen die das anschließende
Grünbeet säumen - von ihnen aus lässt sich der Parkplatz beobachten, und Neuankömmlinge können auf ihre Spendenpotential hin eingeschätzt werden.
Als erster war ein sonnengegerbter Zeitgenosse mittleren Alters mit lichter
werdendem Haar, stets eine Tüte über dem rechten Arm, eine Bierdose in der
rechten Hand und eine Zigarette in der linken, auf die Idee gekommen, den
Ort zu einem Dienstleistungszentrum umzufunktionieren er hatte also von
Beginn an einen Platz sicher. Zu ihm gesellte und gesellt sich von Zeit zu
Zeit der ehemalig hauptamtliche Scheibenwischer von der Brücke. Wie sich die
Strukturen des Unternehmens in der folgenden Expansionsphase entwickelten
ist unklar. Es fing wohl mit Beginn der Schulferien an, dass jugendliche
Słubicer sich zu dem alten Mann setzten und ihm auf der Bank vor der
Stadtbibliothek Gesellschaft leisteten zuweilen halfen sie, auf
rückkehrende Autofahrer aufmerksam zu machen, zuweilen nahmen sie auch
selber Fensterleder und Spritzflasche in die Hand. Wenn der alte Mann andere
Termine wahrzunehmen hatte und nicht anwesend sein konnte, übernahmen sie
kurzerhand das Geschäft, um Kontinuität zu gewährleisten. Man arbeitete
zusammen, und der Name der Straße war wie eine Überschrift: dieses war die
Straße der Arbeitereinheit.
Gestern kam es wohl zum Bruch, oder war es etwa keiner? Vielleicht bestand
keine Verbindung, vielleicht war der alte Mann zu nachlässig mit seinem
Vorrecht verfahren und hatte zu oft in freundlicher Gesinnung anderen seinen
angestammten Platz eingeräumt, so das die Auseinandersetzung absehbar war.
Vorzeichen für eine solche, so unausweichlich sie in Retrospektive
betrachtet - doch gewesen sein muss, gab es jedoch nicht. Nicht in den
vorangegangenen Wochen, nicht in den letzten Nächten, ja selbst am
fraglichen gestrigen Abend schien alles vollkommen entspannt. Die
jugendliche Fensterputzerfraktion hatte sich am Parkplatz eingefunden, zwei
Freundinnen waren noch mitgekommen, ein Kollege mit Auto schaute anfangs
vorbei und beschallte bei geöffneten Türen den Platz mit
sommernachtswürdigen Rhythmen. Der alte Mann war nicht da, also schien es
vollkommen akzeptabel, heute Abend durchreisende und einheimische
Parkplatzbesucher mit Spritzflasche und geöffneter Hand willkommen zu
heißen.
Gegen halb eins war er dann allerdings doch gekommen, die Spätschicht zu
übernehmen. Als er sich zum ersten Auto aufmachen wollte, das eingefahren
war, sah er sich mit dem Widerstand der Jüngeren konfrontiert. Zärtlichkeit
und Schmeicheln kamen gar nicht in Frage, Beharren auf erarbeitete Rechte
schien geboten, der Zeigefinger leicht gekrümmt in pickender Bewegung immer
wieder auf den Boden zeigend "Hier!", "Das hier...!". Das Gegenüber ließ
die Brust schwellen, gereckter Hals, erhobenes Haupt, nach hinten geworfene
Arme "Hier bin ich!", die rechte Hand erhob sich von Zeit zu Zeit und
gebot dem Alten zu verschwinden: "Da hin!", und "Weiter!". Handgreiflich
wurde man nicht, dafür laut. Zum ersten Mal und das sich die Lautstärke
hebt passiert regelmäßig meldete sich ein Anwohner von einem der Balkone
aus. Auf einen der letzten resignierenden Ausrufe des Alten: "Jestem wolny
czlowiek!" schallte nur ein "Idz spac!" als antwortendes Echo von einem der
oberen Balkone herunter.
Das Feld räumt man nicht so schnell, und so dauerte es noch einige Minuten
bis sich der Verstoßene unter zahlreichen Flüchen doch getrollt hatte.
Übrigens ist er heute wieder da, abwechselnd an den Parkscheinautomaten
gelehnt oder auf einer der Holzbänke sitzend. Was passieren wird, wenn die
junge Fraktion sich wieder andient, ist vielleicht die nächste Geschichte. 2.8.2002
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